Metainformationen zur Seite
  •  

Soldatenherzen, Geschehenes und Gesehenes

von Paul Langenscheidt (1915), Seite 88 ff.


— 88 —

Um so ausgiebiger haben wir uns im Westen an Ruhetage gewöhnen müssen. Um sieben, acht erhebt man sich aus einem regelrechten Bett; kleiner Teppich, Waschtoilette, Spiegel, Nachttisch, — alles ist da, ganz wie daheim. Anziehen hübsch gemächlich, meist lacht die Sonne durch das Fenster. Die ausgesprochene Sommerreise, kostenlos, sogar mit Gehalt. Der Bursche erscheint auf das gewohnte Signal, schnürt Stiesel und Gamaschen, legt Sporen um, reicht Taschentuch, Zigarren, Mütze, Reitstock, und hinaus geht's. Draußen ein Blick auf die Dorfarbeiten. Hier prangt eine gewaltige Gartenanlage mit aus Stein gehauenem, wohl zwei Meter hohen Obelisk — Wedigenstein —, dort wird ein zierliches Gitter aus Birkenholz, jedes Quadrat mit anderem Muster gezogen. Dung wird fortgeschafft, die Brunnen ausgemauert, die Keller und Böden gereinigt, die Straßen gekratzt, vor den Quartieren Bänke, Tische, Lauben gezimmert. Überall laufen die von den ab-

— 89 —

geschobenen Bewohnern zurückgelassenen Hunde hinter ihren neuen Herren her. Vor den Ställen werden die Pferde spiegelblank geputzt. Kommandos marschieren ab, um im Walde Holz für die Unterstände zu schlagen, Wege auszubessern, Kohlen zu brennen, Heu zu mähen und einzubringen. In ihren Werkstätten arbeiten friedlich die Schneider, Sattler, Stellmacher und Schmiede, in den Anlagen und auf den Kartoffeläckern die Gärtner. Mit ihren Kriegshunden ziehen die Führer zur Übung hinaus. Im Garten am Flüßchen, in der bepflanzten Laube, steht der Kaffeetisch mit Brötchen, Butter, Aufschnitt, Zeitung. Der Feldwebel meldet „nichts Neues„ und holt Unterschriften; der Unteroffizier vom Dienst berichtet über die Pferde und fragt wegen des Reitens an. Die Gäule werden bestellt, hinaus geht es in den Wald. In greifbarer Nähe blauen die Höhenzüge, das Dörfchen mit seiner schieferbedeckten Kirche und roten Dächern liegt grüngebettet in der Tiefe, Vöglein singen, Lerchen schießen hin und her, von fern murrt dumpfes Brummen. Zurückgekehrt, gibt's Kompagniesorgen, Berichte, Einteilung zu aller hand Dienst, Meldungen, Prüfung der Mannschaftsbriefe, eigene Korrespondenz, Ortskommandanturgeschäfte. Um halb zwölf kommt der Befehlsempfänger von der Division zurück, zu gleicher Zeit die Post. Wir sitzen in unserem Garten, im schattigen Eck am runden Tisch, wo der Bursche sorgsam mein Schreibgerät auf gebaut hat. Gegen ein Uhr paßt man auf, denn Verspätung bei Tisch kostet Strafe. Aber die Kirchturmuhr neben uns schlägt ja jede Stunde zweimal, mit kurzer Pause,

— 90 —

was man zuerst sehr überflüssig, dann aber recht praktisch findet. Nur nachts, wenn man eben einschlafen will, sind vierundzwanzig hallende Schläge etwas reichlich. Das Kasino ein Vorraum, ein Zimmer, im Nebenhaus die Küche — liegt am Rasenplatz, der das schmucke Weddigendenkmal trägt. Alle deutsche Liebe zu Behaglichkeit und Reinlichkeit ist auf dies Kasino verwandt. Neue Tapeten, Bilder, große Karten an den Wänden, Lampen an der Decke, geblümte Vorhänge an den Fenstern. Einer der .Herren hat als Kasinodirektor die Verantwortung für Einkauf, Speisenfolge, Getränke, Kontrolle und Kasse. Der Koch ist ein Hotelbesitzer. Jeder Offizier steuert monatlich einen bestimmten Betrag zu, damit muß — einschließlich der Strafgelder für Zuspätkommen und Verstöße jeder Art — gereicht werden. Gäste gehen auf allgemeine Rechnung. Mittags gibt's Kaffee nach dem Essen, abends Tee und eine Flasche Bier; mehr wird angekreidet. Ein Schnaps wird nur dann bewilligt, wenn das Essen zu schwer oder zu fett war; aber eins von beiden ist nach Ansicht der Tischgesellschaft meist der Fall. Nach Tisch sonnt man sich noch ein wenig, plaudert — es herrscht ein rauher, aber ehrlicher Ton —, raucht, dann teilt sich die Gesellschaft zu Ausflügen, Jagd, Spaziergängen. Von vier Uhr ab wird noch einmal Kaffee für Gäste bereitgehalten. Die Mannschaften sind um sechs mit ihrem Arbeitsdienst fertig, wandern hinaus, waschen und putzen, schreiben. Aus dem Dominium schallt der prächtige Sängerchor der Kompagnie und übt Kirchen- oder frohe Lieder; daneben, vor der

— 91 —

Kantine, sitzen auf Fässern oder improvisierten Bänken andere beim Glase Bier und lauschen, — lauschen als deutsche Soldaten im französischen Dorf dem italienischen Sehnsuchtslied: „Sei gegrüßt, du mein schönes Sorrent“… Plötzlich Ausregung, alles springt auf, — zwei feindliche Flieger! And dum, bum, schicken ihnen auch schon die Abwehrkanonen die weißen Wölkchen nach, die wie Wattebäuschchen den Flug der Gegner bezeichnen, ihnen folgen, sie einkreisen, ihnen den Weg verlegen. Bei Freund und Feind steht ein Fesselballon am blauen Äimmel und späht nach Beute, nach Truppenansammlungen, Kolonnen, Batteriestellungen, die er nach unten der Artillerie melden kann. Am acht Ahr abends wird gegessen, kalt, warm, je nach Befinden des Kasinodirektors, in sommerlicher Laube. Wird es dann kühl, ziehen wir hinein. Zigarren, Bier, Reden, dann, gegen elf, die Heimkehr. Manchmal aber, bei Geburtstagen, plötzlichen Beförderungen, Eisernen Kreuzen oder — was das Schönste ist — ganz ohne Grund kommt es auch anders. Wir haben nach langem Mühen ein Klavier ergattert, und so setzt sich nun einer hin und spielt. Spielt von der Lore am Tore, Puppchen, dem Augenstern, das Flaggenlied, und schon holt dieser die erbeutete französische Trommel, jener die berühmte Teufelsgeige (einen über mannslangen Knüppel, unten eine große Konservenbüchse auf genagelt, darüber bis zur Spitze eine Drahtseite gespannt, hinten ein Schlittengeläut, ganz oben ein Hufeisen oder ähnliches), der dritte holt einen Blechtopf, wieder ein anderer hämmert gegen die Schranktür, der fünfte baut das verstimmte Flaschenklavier auf, und

— 92 —

nun wird's fidel, bis der letzte Tropfen den Weg alles Menschlichen gegangen ist. Am nächsten Morgen wird jeder einzelne bei seinem Auftauchen in stummem Prüfen, in heimlicher Schadenfreude gemustert. Dann ein fragendes: „Na?„ und die selbstbewußte Antwort: „Famos!“ oder aber unter schallendem Kohngelächter der Glücklicheren ein gedehntes: „Pfui Deibel! Das war aber das letztemal!„ And wieder beginnt ein neuer Tag. Vielleicht ein Tag der Ruhe, vielleicht auch ist der Funkspruch schon unterwegs, der uns zu schwerem, ernsten Dienste ruft, — in jedem Fall ein Tag der Sorge und Mühe um das Wohl unserer Leute.